Zuhören – ein Geschenk


    Mit spitzer Feder …


    (Bild: zVg)

    Viele können nicht mehr zuhören. Stattdessen machen sie ein interessiertes Gesicht, hängen aber ihren eigenen Gedanken nach. Und verpassen eine Menge. Wirklich zuhören, ohne dabei gedanklich abzuschweifen und den anderen zu unterbrechen – das ist eine Kunst. Im Telefonat mit der Freundin ist zu hören, wie nebenbei der Geschirrspüler ausgeräumt wird. Beim Arzt bleiben keine zwei Minuten zu erzählen, bevor er unterbricht. Im Büro wird ohnehin viel geredet und noch weniger zugehört. Und in den sozialen Medien schreit sowieso jeder seine Meinung ins Netz, ohne sich dafür zu interessieren, was andere denken. Wir haben uns zu einer Gesellschaft der Sender gewandelt. Man haut was raus auf Twitter oder Facebook oder Whatsapp und erwartet nicht mehr als ein Like zurück. Senden, Empfangsbestätigung, Ende. Kinder hören den Eltern zu, die Angestellten dem Chef, die vermeintlich Schwächeren den Stärkeren. Längst ist ein Ungleichgewicht entstanden. Dabei ist das Bedürfnis nach ein paar Momenten Aufmerksamkeit enorm.

    Viele gehen davon aus, bereits zu wissen, was der andere gleich sagen wird und vervollständigen die Sätze des Partners, weil sie zu lange dauern, würgen Erzählungen der Freundin ab, weil sie ja doch immer das Gleich erzählt. Wer allerdings davon ausgeht, er wisse schon, was den anderen beschäftigt, was er denkt, fühlt und sagen will, der irrt oft. Andererseits ist es dumm: Im Irrglauben, sowieso zu wissen, was der andere sagen wird, entgeht einem, was er wirklich sagen will. Und oft ist das Unausgesprochene, begraben unter Gesprächsgeröll, auch das muss man ja erlauschen. Stattdessen ist man in Gedanken schon bei der nächsten Frage, formuliert innerlich ein Gegenargument oder gleicht ab oder überlegt, wie man das Gesagte als Steilvorlage für den eigenen Monolog nutzen kann.

    Ich hatte eine Mutter, die hat viel geredet – oftmals geschrien – und ihren Redeflüssen und Tiraden war mit nichts beizukommen. Was bleib mir anders übrig, ausser a) zu zuhören oder b) einfach weg zu gehen. Doch Zuhören ist für mich ein Ausdruck des Respektes und deshalb wählte ich meistens Variante a. Richtiges Zuhören ist mittlerweile eine Stärke von mir geworden, die ich nicht mehr missen möchte. Ab und zu springt sogar ein Kolumnenthema heraus! Zuhören ist gerade im Gespräch mit meinem betagten Vater, der vergesslich sein kann, und ab und zu unter starken Wortfindungsstörungen leidet, ein wertvoller Skill. Hier gilt es, in Ruhe und Gelassenheit zu zuhören – und er ist sehr dankbar dafür. Ebenso bei meinen kleinen Neffen, die oftmals ihre Kinderwelt heraussprudeln. Daher: Richtiges Zuhören erfordert meine ganze Aufmerksamkeit, ist es doch gemäss der französischen Philosophin Simone Well «die seltenste und reinste Form der Grosszügigkeit.» Recht hat sie. Wer einem anderen aufmerksam zuhört, macht ihm damit im Grunde ein Geschenk. Interessiertes, geduldiges, empathisches Zuhören, ist eine sportliche Anstrengung – athletisches Zuhören. Und das muss man trainieren.

    Danke fürs Zuhören.

    Herzlichst,
    Ihre Corinne Remund
    Verlagsredaktorin

    PS: Zum guten Zuhören gehört aber auch Stopp sagen. Denn ein Gespräch ist keine Einbahnstrasse. Mal selbst zu Wort zu kommen ist ein grundlegendes Bedürfnis. Hat man wiederum jemanden, der einem zuhört, ist das gut für die geistige Gesundheit.

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